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1989: Keine Gewalt! Wir sind das Volk! Und die Volkspolizei?

Auf der historischen Abbildung in schwarz-weiß ist ein Streifenwagen der Leipziger Volkspolizei zu sehen. Um ihn herum stehen mehrere Menschen. Drei Personen nutzen das Auto als Schreibunterlage.
Ein Streifenwagen der Leipziger Volkspolizei dient Menschen als Schreibunterlage zum Ausfüllen von Reiseanträgen. (10. November 1989)  © Bundesarchiv, Bild 183-1989-1110-039 / Fotograf: Wolfgang Kluge

Friedensgebete wachsen zu friedlichen Demonstrationen. Erste Grenzen der sozialistischen Staatengemeinschaft fallen. Damit kommt auch die DDR samt Volkspolizei an ihre politischen Grenzen.

Die Staatsmacht reagiert immer härter. Die Lage eskaliert.

1. Oktober: Sonderzüge bringen die in die Prager BRD-Botschaft geflüchteten DDR-Bürger nach Westdeutschland. Auf Anweisung der Staatsführung rollen sie ausgerechnet durch das Gebiet der DDR!

3. Oktober: Der visafreie Reiseverkehr mit der ČSSR wird ausgesetzt. Es gibt Versuche, auf die Flüchtlingszüge zu gelangen. Am Hauptbahnhof Dresden versammeln sich tausende Menschen – einige randalieren, verletzen Polizisten.

7. Oktober: Um den 40. Jahrestag der DDR verschärft sich die Situation. Immer mehr Menschen demonstrieren für Demokratie, Meinungs- und Reisefreiheit … Zu Polizeieinsätzen kommt es u. a. in Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt und Plauen, wo eine Demonstration durch Staatsgewalt erstmals nicht mehr zu stoppen ist.

Auf Seiten der Volkspolizei gibt es viele Verletzte – und seitens der Polizei hunderte Misshandlungen und Missachtungen des (Menschen-) Rechts. Warum diese Grenzüberschreitungen?

Analysen zeigen unzureichende Erfahrung mit Großeinsätzen und Unsicherheit über die Grenzen von (DDR-) Recht und Unrecht. Hinzu kommen der enorme Druck, den 40. Jahrestag der DDR »reibungslos« zu zelebrieren, und das von der Staatsführung geschürte Feindbild der »ausländischen feindlichen Kräfte, die gemeinsam mit Vorbestraften, kriminell Gefährdeten und Asozialen den Widerstand organisieren«.

Eindrücke im Bewegtbild vom Dresdner Hauptbahnhof und Demonstrationszügen in Dresden zwischen dem 4. und 8. Oktober 1989.

Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 11464 Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden, AV-0009

Die Polizei als Organ des jeweiligen Staates kann also nicht demokratischer sein als der Staat selbst.

Aus: Das Ministerium für Innere Angelegenheiten in der gesellschaftlichen Erneuerung: Bestandsaufnahme und Schlußfolgerungen, Berlin, Februar 1990
Ein abgeparkter Streifenwagen ist auf diesem Schwarz-Weiß-Foto auf der Motorhaube und dem Dach mit vielen Blumen bedeckt. Daneben ist ein Fußgänger zu erkennen.
Ein Streifenwagen der Dresdner Verkehrspolizei wurde nach der friedlichen Absicherung einer Demonstration von den Demonstranten mit Blumen bedeckt. (5. November 1989)  © Polizeihistorische Sammlung Sachsen

Doch kollidiert die staatliche Fehleinschätzung der revolutionären Volksbewegung in der DDR zunehmend mit dem Selbstverständnis der Polizei und der Realität. So bleibt am 9. Oktober die Montagsdemonstration in Leipzig gewaltfrei – u. a. weil Polizeikräfte ihren Dienst verweigern bzw. die Einsatzleitung entscheidet, nicht gegen die Demonstration vorzugehen. Dem folgt der erste Schritt zu einer neuen Polizei: weg vom Machtinstrument der Partei- und Staatsführung – hin zum Sicherheitspartner der Menschen, auch der Demonstrierenden.

Die Rechtsstaatlichkeit kennzeichnet der Grundsatz, dass dem Bürger alles erlaubt, was nicht verboten und dem Staat nur erlaubt, was ihm rechtlich gestattet ist.

Aus: Das Ministerium für Innere Angelegenheiten in der gesellschaftlichen Erneuerung: Bestandsaufnahme und Schlußfolgerungen, Berlin, Februar 1990
Das Foto in schwarz-weiß zeigt viele angezündete Kerzen auf den Stufen zu einem Gebäude, welches den Schriftzug »Volkspolizei Kreisamt« trägt. Das Bild ist an den hellen Stellen überstrahlt, die Kerzen an mehreren Stellen nicht einzeln zu erkennen.
Kerzen vor dem Eingangsportal des Dresdner Volkspolizeikreisamtes (heute Polizeidirektion Dresden) auf der Schießgasse. (Oktober 1989)  © Bundesarchiv / Stasi-Unterlagen-Archiv
Oberstleutnant Bernd Pawlowski spricht mit Vertretern der Bürgerrechtsbewegung. Er steht rechts hinter einem Schreibtisch mit Schreibmaschine, hinter ihm eine Karte. Die Vertreter der Bürgerrechtsbewegung versammeln sich im Halbkreis vor dem Tisch.
Als Geste der neuen Offenheit empfängt Oberstleutnant Bernd Pawlowski (r.) Vertreter der Bürgerrechtsbewegung in der Zentrale der operativen Diensthabenden in der Bezirksbehörde der Volkspolizei in Leipzig. (5. Dezember 1989)  © Bundesarchiv, Bild 183-1989-1285-024 / Fotograf: Friedrich Gahlbeck
 

Historische Belege zum Weiterlesen

Im Dokument werden nach Uhrzeit Meldungen der Deutschen Volkspolizei aufgelistet. Beispiel, 21.38 Uhr: »Demonstranten werden weiterhin mit Megaphon angesprochen. Bisher keine Reaktion. Demonstranten versuchen weiterhin auf Bahnsteige vorzudringen.«
Auszug aus dem Lagefilm der Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei (DVP)  © Polizeihistorische Sammlung Sachsen

Auszug aus dem Lagefilm der Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei (DVP): »21.39 Uhr: Chef Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei: Meldung Generaloberst Wagner: Brennender Funkstreifenwagen abgelöscht, Demonstranten versuchen unter Gewaltanwendung auf Bahnsteige vorzudringen, Demonstranten werden laufend über Lautsprecher angesprochen, bisher keine Reaktionen. Gegenwärtig ist es noch nicht gelungen, den Bahnhof und Vorplatz von Demonstranten zu räumen. Einsatzkräfte unternehmen große Anstrengungen zur Erfüllung der gestellten Aufgabe. Unter den Einsatzkräften gibt es Verletzte durch Steinwürfe.«

 

»Ich stand in der ersten Reihe. Die riesige Menge hauptsächlich junger Leute uns gegenüber, die zunehmend aggressiv wurden, hatte ich nicht erwartet. In dieser Dimension erlebte ich das zum ersten Mal. … Ich bin seit vier Jahren bei der Polizei, so etwas hatte ich nicht erwartet. Mir ist das jetzt alles unbegreiflich. Wie konnte eine Menge so aufgeputscht werden. Was hat sich da alles angestaut. Mich packte angesichts solcher Brutalität, die auch für Unbeteiligte tödlich sein konnte, Angst.«

Bericht eines Bereitschaftspolizisten, der eine Schädelfraktur und den Bruch eines Mittelfußknochens erlitt, zu den Vorgängen am Dresdener Hauptbahnhof, zitiert nach Daniel Niemetz

Daniel Niemetz: Einen neuen »17. Juni« verhindern. Volkspolizei-Bereitschaften und »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« im Herbst 1989. In: Rüdiger Wenzke (HG): »Damit hatten wir die Initiative verloren« – Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90. Freiburg 2014 (MILITÄRGESCHICHTE DER DDR. Begründet vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam. Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Band 23)

Auf einem schlecht lesbaren Dokument wird beschrieben, wie eine Menge von etwa 2.000 Personen versucht, „wieder in den Bahnhof zu gelangen“. Die Einsatzkräfte „hielten diesem Druck von außen ca. 10 Minuten stand.“ Es werden Schäden beschrieben. © Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv

Lagebericht des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Generalleutnant Willy Nyffenegger: »Nach der Räumung des Bahnhofes versuchte die Menschenmenge, die inzwischen auf ca. 20000 Personen an der Nord- und Südseite des Bahnhofes angewachsen war, wieder in den Bahnhof zu gelangen. Dabei wurden teilweise Türen demoliert und Fenster eingeschlagen. Die Einsatzkräfte waren ausschließlich in der Lage, die Eingänge von innen abzuriegeln. Sie hielten diesem Druck von außen ca. 10 Minuten stand. Durch das Werfen von Pflastersteinen u. a. Gegenständen sowie das äußerst aggressive Verhalten der Bürger konnte an der ostwärtigen Seite des Bahnhofes die Kuppelhalle nicht gehalten werden, so daß die Einsatzkräfte bis zum Durchgang des Querbahnsteiges zurückgenommen werden mußten. Dort wurden die Störer durch Einsatzkräfte, auch unter Verwendung von Elektrokarren und Verkaufswagen, zunächst blockiert. Unter Anwendung von Reizwurfkörpern gelang die Räumung dieses Bereiches. Beim Eindringen in die Kuppelhalle beschädigten die Störer Verkaufseinrichtungen und Vitrinen im erheblichen Ausmaß.«

In der Aktennotiz von Generalleutnant Nyffenegger wird beschrieben, wie nach Zustimmung zum Einsatz von »Hilfsmitteln (Reizwurfkörper und Wasserwerfer)« ersucht wurde. Diesem wurde zugestimmt. »Der Befehl zum Einsatz wurde erteilt.«
Lagebericht und Aktennotiz (unten) des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Generalleutnant Willy Nyffenegger. (Oktober 1989)  © Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv

Aktennotiz des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Generalleutnant Willy Nyffenegger: »Aufgrund der Entwicklung der Lage und deren Zuspitzung Beginn von Zerstörungen von Verkehrs- und Verkaufseinrichtungen sowie Kraftfahrzeugen und verstärkten Angriffen auf die eingesetzten Einsatzkräfte wurde durch mich 21.05 Uhr der Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes ersucht, zur Wiederherstellung der staatlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung im Bereich des Hauptbahnhofes die Zustimmung zum Einsatz von Hilfsmitteln (Reizwurfkörper und Wasserwerfer) zu erteilen.

Nach Konsultation mit dem Minister des Innern und Chefs der DVP wurde durch den Stellvertreter des Minsters und Chef des Stabes rückinformiert und dem vorgeschlagenen Einsatz von Hilfsmitteln (Reizwurfkörper und Wasserwerfer) zugestimmt. Der Befehl zum Einsatz wurde erteilt.«

»Der Imperialismus ist von Berlin bis Peking zum Generalangriff angetreten, um den Sozialismus zu beseitigen; die Tätigkeit der Reformgruppen trägt staatsfeindlichen Charakter; diese vom Gegner gesteuerten Kräfte traten gewalttätig auf; das Handeln der DVP erfordert Konsequenz. Kader, deren man sich nicht sicher ist, sollen nicht eingesetzt werden.«

Aus dem Fernschreiben 226 des Ministers des Inneren und Chef der Deutschen Volkspolizei (DVP) vom 4. Oktober 1989.
Zitiert nach: Das Ministerium für Innere Angelegenheiten in der gesellschaftlichen Erneuerung: Bestandsaufnahme und Schlußfolgerungen, Berlin, Februar 1990

In dem historischen Dokument werden unter anderem Forderungen der »›Abgesandten‹ der Protestdemonstration« beschrieben wie zum Beispiel: Reisefreiheit, Zulassung des Neuen Forums, Freilassung politischer Gefangener, freie Wahlen, Reform der Presse.
Einschätzung der Lageentwicklung der Ereignisse in Dresden zwischen dem 3. und 8. Oktober 1989 durch den Leiter der Bezirksverwaltung für Staatsicherheit  © Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv

Einschätzung der Lageentwicklung der Ereignisse in Dresden zwischen dem 3. und 8. Oktober 1989 durch den Leiter der Bezirksverwaltung für Staatsicherheit: »Die von den "Abgesandten" der Protestdemonstration am 8.10.1989 erhobenen Forderungen beinhalten u. a.

- Reisefreiheit
- Zulassung "Neues Forum"
- Freilassung der politischen Gefangenen
- Wahlen mit freier Wahl der Kandidaten und der Programme
- inneren Frieden ohne Gewalt
- Reform der Presse
- Schulreform.

Nach ersten operativen Feststellungen begaben sich am 8.10. nach Beendigung der Protestdemonstration die inzwischen namentlich bekanntgewordenen 21 Vertreter der ca. 1300 noch auf der Prager Straße verbliebenen "Protestanten", darunter eine freischaffende Journalistin, zwei katholische Kaplane, ein Bäcker, in die Dompfarrei, um sich auf das zugesagte Gespräch mit dem Oberbürgermeister vorzubereiten.«

»Bürger der Stadt Plauen!
Am 7. Oktober findet auf dem Plauener Theaterplatz eine Protestdemonstration statt

Unsere Forderungen lauten:
- Versammlungs- und Demonstrationsrecht
- Streikrecht
- Meinungs- und Pressefreiheit
- Zulassung der Oppositionsgruppe „Neues Forum“ sowie anderer unabhängiger Parteien und Umweltgruppen
- Freie, demokratische Wahlen
- Reisefreiheit für alle«

Jörg Schneider: Aufruf der »Initiative« zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft, Flugblatt 1989, Original im Vogtlandmuseum Plauen

»Ich schwöre, meinem sozialistischen Vaterland, der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Regierung allzeit treu ergeben zu sein, Dienst- und Staatsgeheimnisse zu wahren und die Gesetze und Weisungen genau einzuhalten. … Ich schwöre, dass ich, ohne meine Kräfte zu schonen, auch unter Einsatz meines Lebens, die sozialistische Gesellschafts-, Staats- und Rechtsordnung, das sozialistische Eigentum, die Persönlichkeit, die Rechte und das persönliche Eigentum der Bürger vor verbrecherischen Anschlägen schützen werde. Sollte ich dennoch diesen meinen feierlichen Eid brechen, so möge mich die Strafe der Gesetze unserer Republik treffen.« (Auszug)

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Eine dicht gedrängte Menge bei einer Demonstration, die Mehrzahl der Demonstranten trägt Uniform. Die Menschen auf dem Bild halten fünf Transparente in die Höhe, eine der Aufschriften ist: »Betrogen, Verraten Mißbraucht Auch WIR sind das VOLK«.
© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0124-030 / Fotograf: Friedrich Gahlbeck

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